Bei uns zu Hause

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Ein Gegenentwurf

Es heißt von außen immer, ich müsse mal unter Leute. Aber ich brauche das alles nicht. Wirklich ! Habe ich es eigentlich jemals gebraucht? Ich glaube nicht. Es war jahrelang nur die pure Konvention. Ich habe noch nicht einmal gern Besuch. Früher hieß es: viele neue Menschen, viele neue Kleider, viele sogenannte Freunde, viele große Veranstaltungen, viele große Reisen, viele große Autos, eine Große Ehe. Alles vorbei. Wenn ich ausnahmsweise einmal eine wichtige Verabredung habe, weiß ich gezielt genau: erst kurz zum Friseur und dann zu P&C, 2. Stock geradeaus, directement zu Boss oder Kors, irgendetwas gut geschnitten Dunkelblaues, Klassiker von Blahnik und dann hat sich die Sache. Mehr als eine Dreiviertelstunde brauche ich dafür nie. Also ohne den Friseur. Nur habe ich erstens kaum Verabredungen und zweitens bin ich inzwischen selbst dazu zu faul.

Auch habe ich immer schon lieber mit mir selbst über das neuste Buch gesprochen, das ich gelesen hatte.  Wenn es nicht die Nächte sind, bin ich manchmal tagelang mit Stapeln von Büchern irgendwo in der Wohnung verschollen. Der Bote von DHL denkt schon, ich hätte nur diesen einen hellblauen Pyjama. Pakete für die Nachbarn nehme ich schon gar nicht mehr an, denn die denken das Gleiche, wenn sie ihre Pakete dann abholen. Rollos unten, Kerze an, ein – und ausatmen nicht vergessen und natürlich sollte ich vielleicht auch mal was essen zwischendurch. Etwas Bio – Italienisches am Besten. Und zum Denken benötige ich literweise stilles Wasser aus Frooonkreisch. Ach ja, – mein Faible für Frankreich. Dazu komme ich gleich noch.

 

Literatur

Inzwischen lese ich übrigens nichts mehr v o n, dabei aber um so mehr ü b e r Astrid Lindgren. Vor Frankreich kommt also erst noch Skandinavien. Und zwar lese ich alles, was ich über sie kriegen kann, – jedes noch so kleine Textfragment. Sie war so großartig. Ich wünschte, sie wäre noch hier. Astrid Lindgren, eine unvergesslich moralische Instanz. Eine große schwedische Intellektuelle. Mit ihren Werken hat sie uns gezeigt, dass es sein kann, dass Erwachsene unlogische und vollkommen fantasieferne Dinge tun und schlimmer noch, genau diese dann auch von ihren Kindern erwarten. Und das Ganze befindet sich schriftstellerisch auf einem unschlagbar hohen Niveau. Astrid Lindgren hatte Kindern die Sicherheit gegeben, dass Kritik nach oben legitim ist. Eigentlich wurde man dafür selbst in der zweiten Hälfte des 20igsten Jahrhunderts, nicht nur in Deutschland, noch drakonisch bestraft. Dass man auch unkonventionelle Wege gehen und ans Ziel kommen kann, das hat sie verkörpert. Es ist sogar heute noch keine Selbstverständlichkeit, speziell dann, wenn man in der Art seiner Gedanken mit den meisten anderen kaum Berührungspunkte hat. Zwar war es damals ein komplett anderer gesellschaftlicher Kontext, aber ich bin mir sicher, dass sie uns auch heute auf den Punkt treffen könnte mit ihren Themen. Mit wenigen geschliffenen Sätzen. Im übrigen sind alle ihre Aufzeichnungen hoch spannend. Nicht nur die, die an Kinder adressiert sind. Es lohnt sich also.

 

Klassik

Meine Sprachen lerne ich nicht. Es ist mehr ein Einatmen. Neben Norwegisch und Italienisch online, beides kann man übrigens hervorragend auch nebenbei mit dem iPhone beim Zähneputzen und Kochen und im Pyjama bedienen (und in Aufzügen, Arztpraxen, an der Kasse und im Stau, am Gate und am Lift, in Cafés und während langweiliger Vorträge et cetera, dann aber lieber im Anzug), bin ich seit einigen Jahren schwer verliebt in David Fray. Ich höre ihn ständig. Ein junger und attraktiver französischer Pianist. Verheiratet ist er mit der sympathischen und schönen Chiara Muti, Tochter des berühmten italienischen Maestros Ricardo Muti. Ich muss meine Leidenschaft für ihn hier zugeben, – auch wenn es haarscharf an der Grenze zum Oberpeinlichen ist, ich mit Jahrgang 64, aber er ist einfach unglaublich. Selbsternannte Kenner der Szene sagen, keiner spielte Bach so aufregend wie er. Hoffentlich liest das nicht Friedrichs langjährige Klavierdozentin, – sie hat da bestimmt ganz andere Vorstellungen.

Jedenfalls, etwas sehr Aufregendes ist sein Video über die Aufnahme zweier Bach – Klavierkonzerte, in A – dur und in F – moll, die er 2008 zusammen mit der Kammerphilharmonie Bremen aufgezeichnet hat. Ein waschechtes making – of sozusagen. Jedem, der nur annähernd an Bach interessiert ist, kann ich z. B diese besagte youtube Aufnahme ans Herz legen. Ich bin so glücklich über die Erfindung von youtube. Ich freue mich so sehr darüber. Auch wenn ich für die Herrschaften von Google inzwischen ein offenes Buch bin, – ich könnte sie küssen. Aber zurück zu Fray. Ursprünglich habe ich diese Aufnahme ausgewählt, um mein Französisch etwas aufzubessern. Extrem charmant gibt er seinem 1. Violinisten dezidierte Anweisungen, wie ganz genau die Streicher welche Sequenz zu spielen haben. Ich könnte in die Knie gehen. Das m u s s man selbst sehen. Und dann noch seine Kommentare zu den Werken selbst, die er bei sich zu Hause in Paris hat aufnehmen lassen … Auch sehr zu empfehlen: seine Aufnahme der Toccata in C – moll von Bach vom 26.07.2013. Extrem – Polyphonie allererster Klasse. Ein Genuss.

 

Friedrich und mein Versuch, ihm zu folgen

Hier in meiner getäfelten Schreibtisch/ Lese – Zone bekomme ich außerdem regelmäßig hohen Besuch von meinem Sohn, der mir einiges abfordert. Seine Diskussionsangebote kann ich nur in homöopathischen Dosen ertragen und wahrnehmen (entschuldige bitte, Friedrich), – aber nur so schaffe ich das gerade noch, um mich von ihm politisch nicht in Grund und Boden argumentieren zu lassen. Dabei halte ich mich nicht für schwächlich, im Gegenteil. Friedrichs große Leidenschaft ist die Deutsche Geschichte. Schon seit seiner Grundschulzeit denkt er an nichts anderes und spricht von nichts anderem. Müsste er nicht zwischendurch ein paar Stunden schlafen, hätte besonders ich die Gelegenheit mir täglich beispielsweise einen non – stopp 24 Stunden Vortrag über wahlweise Preußen und seinen Einfluss im ausgehenden 19. Jahrhundert oder die Rolle Wilhelms II. zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Versailler Vertrags anzuhören. Aktuell ist natürlich, man kann es sich fast denken: das Nationale im allgemeinen und im speziellen, – was ist das eigentlich und warum ist es für viele Staaten völlig natürlich und normal, nur für uns nicht? Stimmen da noch die Verhältnismäßigkeiten? Bei allem Respekt vor allen Betroffenen. – Was haben diese Nazi – Bestien uns da bloß angetan? Und das anscheinend für immer und für alle Zeiten? Unser gesamtes, gesundes Selbstverständnis haben sie uns genommen. Weiterführendes dann bei anderer Gelegenheit in einem anderen Kontext – . Aber bitte, man stelle sich die Briten ohne ‚Rule Britannia‘ vor. Oder ohne ‚Land of Hope and Glory‘.
Jedes Jahr im September findet das patriotische Spektakel „Pomp and Circumstances“ in London in der Royal Albert Hall statt. Alternativ mit britischen Fähnchen wedelnderweise im Hyde Park vor gigantischen Leinwänden und der Live Übertragung. Das reizt mich ziemlich. Man müsste es sich wirklich einmal vor Ort ansehen. Im September dann.

Bis dahin muss hier zu Hause die Couch reichen. Langweilig ist es jedenfalls bei uns trotzdem nicht und ob ich nun unter Leute muss, – das glaube ich nicht unbedingt.

youtube: Rule Britannia, Land of Hope and Glory, Jerusalem Hymn – Last Night of the Proms 2009, 2010 usw.
Royal Albert Hall, BBC London

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