Anruf von Anna (Leseprobe)

Es war im Januar

Schon wieder einer dieser schneelosen Januare, die mich annehmen ließen, dass es bald gar keine Winter mehr geben würde. Ein Samstag. Ich schlich mich um halb acht an Viktors Zimmer vorbei, bis ich die Stimmen der beiden hörte, worauf ich nicht mehr schlich, sondern ging und zwar zum Kühlschrank. Ich öffnete ihn und entnahm das Morgenritual in Form je einer Zitrone und einer Grapefruit und der Bio- Vollmilch für meinen ersten Kaffee, den ich mir noch nicht verboten hatte. Meine einzige Schwäche. Sagen wir, bis auf äußerst seltene Bombay Sapphires. Wie eine zirpende Grille klang das kleine Pfeifen aus der angenehm beleuchteten Kälte. Ich hielt kurz an und lächelte darüber bevor ich ihn wieder schloss.

Glücklicherweise beinhaltete er einiges und ich musste nicht noch einmal los, um einzukaufen. Viktor und Greta hatten für ihre Nahrungszufuhr inzwischen Eigenverantwortung übernommen, was mich entlastete, auch wenn ich mir eingestehen musste, von dem plötzlichen Ausschluss aus Viktors Leben kalt erwischt worden zu sein. Aber es hatte endlich wieder eine Phase begonnen, in der ich intensiv in meiner eigenen Gedankenwelt leben konnte, das Apartement kaum verlassen musste und der Haushalt zwar nur schleppend funktionierte, ich aber glücklich war, in meinen Sphären bleiben, Auszüge daraus ungestört formulieren und niederschreiben zu können. Fiktionaler Stoff, nichts von dem schweren der vorhergehenden Monate. Mehr wollte ich doch gar nicht. Die Unterbrechungen, in denen ich zu einer Konfrontation mit anderen Menschen gezwungen war, riefen zunehmend eine immer größer werdende Abneigung in mir hervor. Ich bin das nicht, dachte ich. Ich war es noch nie. Aber woher sollte ich das wissen? Es entsprach nicht der Norm und die war leider das, woran sich im Kontext meiner ersten Jahrzehnte alles zu richten hatte. Heute bin ich zwar der Bestimmer, aber leider auch die Financière. Noch geht es nicht, flüsterte ich mir zu. Noch kann ich mich nicht komplett zurück ziehen. Aber vielleicht bald. Ich spitzte meinen Bleistift.

Nachdem ich meine Frühstücksutensilien, wieder an Viktors Zimmer vorbei, in meines getragen, das Fenster geschlossen und die Kerze auf meinem Nachttisch angezündet hatte, ging ich zurück in Richtung unseres großen Universalzimmers, in dem neben dem Flügel auch unsere Geräte stehen, die es uns ermöglichen, sogar das Haus nicht verlassen zu müssen, wenn wir Sport machen wollen. Ich habe den Eindruck, ohne die planmäßige, systematische und vor allem regelmäßige Beanspruchung meiner Muskulatur bald auszusehen, wie eines dieser Skelette, die früher zum festen Inventar gut ausgestatteter Biologiesäle gehörten und die die korrekte Anordnung ihrer durchnummerierten Knochen einigen stabilen Plastikverstrebungen, ein paar Metallösen und daran geknotet, etwas dickeren Nylonfäden zu verdanken hatten. An die Geräusche, die sie machten, wenn die Bio- Lehrer sie von einer Ecke in die andere schoben, erinnerte ich mich lieber nicht. Gibt es sie wohl heute noch? Bestimmt eruiert man die humane Anatomie inzwischen an gläsernen Touch- Screens, die einem in rasender Geschwindigkeit nicht nur ein paar simple Knochen sondern, an hell- und dunkelroten Organen vorbei, geschlossene Rutschbahnen roter und blauer Gefäße runter und rauf, neben riesigen Blutkörpern und innerhalb unterschiedlichster Bindegewebsstrukturen an einzelnen, aufgeklappten Zellen angekommen, deren bunte und interessant geformte Bestandteile präsentieren, so stelle ich es mir zumindest bildhaft vor.

Wahrscheinlich simulieren sie auch eindrücklich, was mit Muskeln, Gelenken und Gehirnen alles passiert oder besser, nicht passiert, wenn man sie nicht ständig benutzt. Das allein kann ich mir leider auch ohne einen überdimensional großen gläsernen Touch- Screen lebhaft vorstellen und machte an besagtem Samstag diszipliniert und relativ angestrengt meine drei, vier Übungen, als plötzlich das Telefon klingelte.

Ich warf die Lang- Hantel auf den silbergrauen Hochfloorteppich und rannte in mein Zimmer, wohl wissend, dass das Telefon Gespräche viel zu früh auf die Mail- Box umleitete, was ich immer mal wieder ändern wollte, es aber genauso immer wieder vergaß. Ich hatte gerade noch einmal Glück gehabt, noch klingelte es à la ‚an der Strandpromenade‘ und ich meldete mich, etwas außer Atem, mit einem schnellen und kurzen Ja. Es dauerte einen kleinen Moment, bis ich am anderen Ende der Leitung eine leise Stimme vernahm, die zunächst vorsichtig und zart  danach fragte, ob ich auch diejenige wäre, die sie glaubte, angerufen zu haben, die Frau aus dem Internet.

Als ich etwas zögernd und fragend bejahte, nannte sie mir ihren Namen. Anna hieße sie und sie riefe aus einer Strafvollzugsanstalt an, ich sollte bitte nicht erschrecken. Sie entschuldigte sich für die Störung am Wochenende, was ich ihr aber sofort freundlich auszureden versuchte. Nicht jeder Anruf an einem Wochenende ist automatisch gleich eine Störung. Die starke Nervosität war ihr anzumerken. Ihr Vortrag bebte leicht. So gut ich konnte ermutigte ich sie dazu, weiterzusprechen, was ihr schwer zu fallen schien. Anna sagte mir, sie müsse dringend persönlich mit mir sprechen und fragte mich, ob ich es einrichten könne, zu ihr zu kommen. Sie zu besuchen, das wäre wohl der falsche Ausdruck, sagte sie, denn die Gründe und die Umstände einer von ihr ausgesprochenen Einladung wären normalerweise ganz andere, worauf sie selbst kurz lachen musste, sich dann aber schnell beherrschte und zu ihrer anfänglichen Angst zurückkehrte. Ich traute mich kaum zu fragen, worum es denn ginge, tat es dann aber trotzdem, während ich mir ausmalte, wie der riesige Saal wohl aussähe, in dem wir für eine begrenzte Zeit miteinander sprechen dürften. Ich stellte ihn mir so vor, wie man ihn eben aus Filmen kennt, kaltfarbig gestrichen, mit winzigen Tischen und sich gegenüberstehenden, unbequemen Stühlen, die laute, hallende Geräusche machten, wenn man sie vor- und zurückschob, wachende und bis an die Zähne bewaffnete, dunkel uniformierte Beamte in jeder Ecke und ich fragte mich gleichzeitig, ob ich das alles überhaupt erleben wollte. Aber ihre Gründe, mich anzurufen, mussten aus einer tiefen Verzweiflung kommen. Ich spürte, sie entstammten einem Gefühl der Hoffnung und der Idee, der Kontakt zu mir sei vielleicht ihre einzige und letzte Rettung, so nahm ich Anna wahr. Und als sie mir dann sagte, worum es ging, willigte ich sofort ein …

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