Und jetzt ?

Es ist an der Zeit

Es ist an der Zeit, zu resümieren. Als führe man bei Google-Earth rückwärts und betrachtete den winzigen Punkt seines kleinen Stückes Regenwald von jetzt auf gleich aus der Perspektive des Universums. Winzig und nicht mehr so furchteinflößend.

Was ist alles in meinem halben Jahrhundert passiert? Warum wussten andere von Anfang an mehr darüber, wie leben funktioniert und warum habe ich so lange gebraucht, um alles zurecht zu rücken, nachdem ich es endlich verstanden hatte? Den Gedanken, diesen Sachverhalt unfair zu finden, verbiete ich mir schon im Ansatz, – er ist zu billig. Aber dennoch, meine Erfahrungen der ersten Dekaden an irgend etwas festzumachen, ein Prinzip darin zu erkennen, dieser Drang danach, es verstehen zu müssen, kam dem Wunsch gleich, einen Pudding an die Wand nageln zu wollen. Wichtige Koordinaten, eigentlich die entscheidenden, haben mir dazu gefehlt.

Warum klappt das bewusste Leben plötzlich so gut?

„Fernsehen macht die Blöden noch blöder und die Schlauen schlauer“, diese bahnbrechende akademische Erkenntnis machte in Zeiten meines Publizistik-Studiums an der Uni die Runde und lässt sich natürlich ohne weiteres auch auf das Internet übertragen. Und hat man eines der wichtigsten esoterischen Lebensprinzipien begriffen, nämlich dass man sehr wohl geleitet wird, und sei es auch nur durch das passende youtube-Video zur richtigen Zeit, dann kann man diese Digitalisierung nicht genug anbeten. Das Resonanzgesetz, ja, ich weiß.

Nach ca. einer weiteren Dekade hatte ich endlich die essentiellen Informationen erhalten, die ich brauchte, z.B. aus Chicago, aus Sydney, aus Manchester, Brooklyn, London, Kiel und Achtung: West Bridgewater in Massachusetts (letzteres konnte meine Oma immer nicht aussprechen). Darauf ließ sich aufbauen.

Und jetzt?

Das meiner Meinung nach Wichtigste, ist die Fähigkeit des bewussten, klaren Denkens, dessen individuelle Voraussetzungen man für sich unbedingt herausfinden sollte. Mit allergrößtem Bedauern musste ich feststellen, dass in meinem ganz persönlichen Fall viel Schlaf, kein Alkohol und wenig Kohlehydrate, sowie die fast 100%ige Isolation von der Außenwelt die besten Voraussetzungen dafür sind. So lassen sich Erfahrungen am besten verwalten. Dann klappt es auch mit der Logik.

Was mache ich aber nun mit diesen Informationen? Leider gehöre ich nicht zu der Gruppe derjenigen Menschen, die ihr ganzes wertvolles Leben lang regelmäßig in den Skiurlaub oder die Karibik fahren können und daraus immer wieder neue Stimuli beziehen, – das funktioniert bei mir nicht. Insofern kann ich mich nicht auf kuschelige Rituale und wärmende Verlässlichkeiten beziehen. Ich bin auch nicht gern unter Menschen, – die vielleicht signifikanteste Erkenntnis von allen. Und wenn man sowieso eher die Nacht, den Regen, die Kälte, den Winter und die Einsamkeit favorisiert, um sich wohl zu fühlen, braucht man ganz andere Ideen, um es sich in seinem Leben hübsch einzurichten. Was also gibt ihm Sinn, wenn es nicht Familienfeste in der Sommersonne sind oder Skiurlaube in der Schweiz mit der Frauenabteilung des Lions Clubs?

Etwas Großes muss es sein, – ein neues Ziel

Was als groß definiert werden könnte, muss selbstverständlich auch wieder jeder für sich selbst herausfinden. Groß wäre in diesen Zeiten ja schon eine einzige selbstlose Aktion am Tag, wie ich finde.

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Es war der Moment als Du mir sagtest … (Leseprobe)

dass du die alte Kirsche fällen wolltest

Sicher, es gab im Laufe der Zeit viele ganz flüchtige aber auch eindrückliche Zeichen. Ich hatte sie wohl einfach weggeschoben und im wahrsten Sinne verdrängt auf meinem Weg in meine Wunschzukunft, von der ich annahm, sie sei deiner ganz ähnlich. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Und diese Praxis habe ich mir gegenüber stur durchgesetzt. Die Zeichen sollten sich in den gemeinsam verbrachten Jahren zu einer schlimmen Täuschung summieren, für die ich, mich selbst betreffend, die alleinige Verantwortung übernehme. Jedenfalls zum größten Teil.

Was hatte ich auch Regula nach Rat gefragt? Ausgerechnet sie. Das Verhältnis zu ihr war genauso eine Illusion. Selbst an dieser Stelle empfiehlt sich die sorgfältige Suche nach möglichen Motiven der jeweils anderen Seite.
‚Jeder hat eine zweite Chance verdient‘, hieß es.
‚Besonders, wenn er trotz allem vorzeigbar ist‘, dachte sie wohl nicht ganz uneigennützig, – denke ich heute. Und ich hatte bei ihr nie die geringste.
Vom ersten Tag an nicht. Das war nie ihr Plan.

Auch wenn ich über keinerlei Talent in Sachen mathematischer Abstraktionsfähigkeit verfüge, – eines weiß ich jetzt. Die Gesamtsituation war eine Beispielaufgabe für eine Gleichung mit zwei Unbekannten.

An jenem Tag lief ich, wie so oft, mit Gummistiefeln über das große Areal, was einmal unser Zuhause werden sollte. Dass es nicht voran ging, daran hatte ich mich schon gewöhnt. Aber dein Optimismus, an jedem neuen Morgen, war genauso ansteckend wie die Fülle neuer Ideen, die du hattest und die wir abends am Feuer mit schwerem Rotwein ausschmückten in allen Farben und gelacht haben wir dabei so sehr und alles war leicht, während Du mir eine Decke und noch eine Decke brachtest, damit ich nicht friere. Und du packtest mich darin ein mit deinen starken Armen in deiner ganz eigenen, entschlossenen Art, was mich jedes Mal nur noch mehr an uns glauben ließ. Wir machten alle Kerzen an, im designierten Kaminzimmer, und durch den noch rohen Backstein schimmerte der Raum in einem rostroten Ton.

Wir blickten die ganze Zeit ins Feuer, dessen Knistern ich heute noch höre und niemals vergessen werde. Ein abendliches Ritual, dieses große und warme Licht durch das rubinrote Weinglas, so archaisch, so symbolisch, dachte ich, – es beschrieb uns als kleine geschlossene, innige Gruppe gleichartig Fühlender in dieser kalten, kargen Gegend, deren noch kältere und noch kärgere Menschen sich mir nie erschlossen haben. So sehr ich mir auch Mühe gab, ich konnte sie nicht lesen. Aber wir hatten uns, dachte ich, und nichts könnte uns trennen, so stark waren wir zusammen. Dachte ich. Ich schwöre, ich habe an diesen besonderen Abenden Vollkommenheit gespürt.

‚Die Kirsche muss weg‘, sagtest Du an diesem Morgen plötzlich, als ich dir das Frühstück brachte. Ich war wie gelähmt.
‚Aber warum denn?‘
‚Sie macht zuviel Dreck.‘
‚Aber nein, das kannst du doch nicht machen. Dieser wunderbare alte Baum. Hast du also jetzt einfach so beschlossen‘, fragte ich aufgeregt, ‚das ist doch purer Aktionismus, meiner Meinung nach.‘
‚Die Fläche hier muss frei sein und nochmal, die Kirsche kommt weg‘, sagtest du mit Nachdruck, damit ich gar nicht erst anfing zu argumentieren.
‚Und da fragst Du mich gar nicht, wie ich das finde? Es ist doch unser gemeinsamer Traum, das alles hier. Bitte! Bitte nicht!‘
‚Ich werde heute mit den Ästen anfangen und morgen kommen die Beiden zum helfen. Die Wurzel wird problematisch, dafür brauchen wir den kleinen Deere‘, hörte ich dich noch während ich mich umdrehte und wie betäubt einfach losging.
Ich sah alles um mich herum nur noch verschwommen und es lief und ich lief mechanisch und stolperte einfach weiter und weiter tief in den Wald hinein. Stundenlang bis es dunkel wurde.

Ganz langsam fing ich an zu verstehen. So schwach mich diese Sätze von dir auch machten, umso klarer wurde mir von da an unsere Geschichte. All die diffusen und bis zu diesem Zeitpunkt für mich kaum zu verstehenden Gefühle, die ich manchmal hatte, fingen an, sich zu definieren. Es war dir einfach vollkommen egal, was mir etwas bedeutete. Es hat dich schlicht nicht interessiert.

Vorbereitungen

Die Verabschiedungsbriefe sind raus. Es kamen kaum Rückfragen, was mich nicht weiter verwundert. Man wünschte mir viel Glück bei meinem Vorhaben, was immer es auch sei.

Die verschiedenen Rotweinreserven sind gemischt, von Malbec über Shiraz bis zu ein paar sorgfältig ausgewählten Piemontern, – es ist alles dabei. Für die beiden Monate ohne ‚r‘ nehme ich einige Flaschen meiner Lieblings – Rheingauer mit. Der Forellenteich hinter der Hütte wird im Sommer zwar nicht den Kühlschrank ersetzen, verhindert aber zumindest das Schlimmste. – Ich bin gespannt, was die Zollbeamten dazu sagen.

Hätte ich noch einmal die Chance, unternähme ich schon viel früher radikale Schritte. Ich würde in allen Bereichen ein ganz neues Leben anfangen. Alles auf Null. Nur so geht es. Nur auf diese Art ergibt sich eine ernstzunehmend neue Perspektive. Alte Konditionierungen laufen dann ins Leere. Es hat mir niemand gesagt, so wie es ohnehin durchgängig an Mentoren gefehlt hatte, was entscheidend war. Nur er oder sie hätte die Situation von außen betrachten und bewerten und mir wohlwollend zu entsprechenden Maßnahmen raten können. Im Auge des Hurricanes aber ist man orientierungslos.

Die alte Olympia ist überarbeitet, farbige Papierstapel sind aufgetürmt, Bleistifte sind gespitzt. Was genau die Stille mit mir machen wird, das kann ich nur erahnen. Sie wird wohl aus mir einen anderen Menschen machen. Einen Teil von sich. Das Körperliche wird nur noch am Rande eine Rolle spielen und hoffentlich vergesse ich nicht, zu essen. Ich werde euphorisch jeden neuen Tag erleben, – ich werde ihn mir er-leben mitten in der Natur.

Was wird mit denen passieren, die ich in mir trage? Sie hängen so penetrant im Netz meiner Gedanken fest. Ich will sie rausschütteln, aber sie haben sich dort verfangen mit ihren kurzen Widerhaken und je nachdem, wie sie sich gegeben haben, hängen sie eventuell sogar direkt neben dem Schmerzempfindungszentrum. Dort hat sich inzwischen eine richtige Kommune derer angesiedelt, die das wenig aggressive Auftreten meinerseits als einen Mangel an Selbstbestimmtheit missgedeutet haben und daraufhin wohl meinten, mich als Projektionsfläche für eine Auswahl ihrer Machenschaften nutzen zu können. Ein Mensch, der keine Angst hat, ist nicht aggressiv. Noch immer bin ich es selten.

Nur in Ausnahmesituationen, nämlich dann, wenn es sehr deutlich an mitmenschlicher Kultur fehlt. Oder wenn mir demonstrativ die Anerkennung verweigert wird. Das lasse ich nicht mehr zu. Aber vielleicht sollte ich mir für das Kommende eine Art Scheinaggressivität zulegen, – sozusagen als Anpassungsleistung an die weniger Sensiblen.

Und so verabschiede ich mich für eine Weile von der Zivilisation in dem Bewusstsein, schon das Meiste gesehen zu haben. Ein Grundton der Zufriedenheit schwingt unbedingt mit. Es gab schon immer bindungslose Zeiten in meinem Leben. Sie waren wertvoll. Nur der Umstand, ein komplettes Leben bereits hinter sich zu haben, ist neu. Die Reflexion darüber bringt eine ganz andere, eine schwere und nachdenkliche Qualität hinein in das Begreifen meines Selbst. Es hat Abschliffe und Abriebe gegeben. Was hat sich dadurch verändert an dem Klang? War die aufgewandte Energie von Bedeutung und wenn ja, für wen? Kann ich noch eine weitere, eine ganz andere Bedeutung geschehen lassen und wenn ja, für wen? Habe ich alles Gute in dem Maße geschaffen, in dem ich es mir unbewusst vorgenommen hatte, – nach den frühen Jahren an der Nordwand?

Die wenigen Utensilien, die ich in der Hütte brauche, kann ich auch in Halden noch besorgen. Daran sollte ich jetzt nicht denken, – Streichhölzer zum Beispiel oder das Mückennetz, das ich mir unbedingt über mein Bett hängen muss, einige Kerzen und Öl für die Lampen.

Auf der Fähre wird mir der Wind die Haare aus dem Gesicht blasen.