Am liebsten würde ich eine Schule gründen

Unter anderem zur kontroversen Diskussion über die verdächtig verbreiteten Verordnungen von Ritalin

Sowohl der youtube Beitrag zum Thema ADHS von Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen und mein Lieblings-Hirnforscher, als auch ein Gespräch mit zwei befreundeten Müttern, bringt mich in Rage. Ihren pubertierenden Söhnen wird seit Jahren Ritalin verschrieben. Angeblich sei das Medikamment die einzige Möglichkeit, die Jungen ‚ruhig zu stellen‘, damit sie den Unterrichtsstoff aufnehmen könnten. Für alle Beteiligten der bequemste Weg.

Übersetzt heißt das natürlich, das Medikamment sei die einzige Möglichkeit, die Jungen zum Funktionieren zu bringen und sie zu beugen. Es wird einmal mehr nur ein Symptom bekämpft.

Kinder und Jugendliche, in den meisten Fällen sind Jungen betroffen, sollten innerhalb ihrer Familien Herausforderungen annehmen und durch gemeinsame Projekte Erfolgserlebnisse oder auch Mißerfolge erfahren, um daran zu wachsen bzw. Frustrationen aushalten zu lernen. So Prof. Hüther. Das leuchtet ein. Nur so kann Sozialisation stattfinden. Sowohl auf dem Land, als auch innerhalb von Organisationen, wie z.B. den Pfadfindern, seien wesentlich weniger Fälle von ADHS zu verzeichnen. Das ist interessant.

Ich kann mir gut vorstellen, dass im Rahmen der Schule die Möglichkeiten sich auszuprobieren stark begrenzt sind. Das trifft besonders auf männliche Schüler zu. G8 ist innerhalb dieser Diskussion ein entscheidender Faktor, – beispielsweise ist für Sport kaum Zeit. Und eben auch generell nicht für außerschulische, den Charakter formende Aktivitäten.

In der Schule können Jungen und Mädchen ihre Individualität kaum zum Ausdruck bringen. Woher sollen sie wissen wer sie sind und was sie besonders gut können? Ich meine damit ‚differenziert besonders gut‘. Was ist zum Beispiel mit verborgenen Führungsqualitäten bei Mädchen? Die werden sich übrigens auf einer gemischten Schule kaum herauskristallisieren. Ebenso wichtig ist es zu erfahren, was genau ihnen nicht liegt. Diese Erkenntnisse lediglich aus Benotungen zu beziehen, ist zu dünn. Sehr gute Benotungen bedeuten oft lediglich, dass die Mädchen und Jungen sich systemkonform verhalten, sich also angepasst haben. Da Mädchen eher dazu neigen sich anzupassen, sind es inzwischen meistens Jungen, die die Schule sogar komplett verweigern. Schul-Absentismus ist allerdings wieder ein Thema für sich.

Ein deutsches Phänomen?

Ich kann mich noch gut erinnern, also lange vor social media, dass man in der Schule von Lehrern und Mitschülern ständig beobachtet und kritisiert wurde. Manchmal kommt es mir vor, als sei Deutschland das Land der zwanghaften Kritiker. Oft ohne den nötigen Informationshintergrund wird man hier klassifiziert, – besonders gern aufgrund von Äußerlichkeiten. Ständig bewertet zu werden, kann krank machen. Dass es aktuell für manche Schüler unerträglich sein muss, kann ich mir gut vorstellen. Ich halte unsere Gesellschaft in diesem Zusammenhang für emotional unterentwickelt. Andere Faktoren stehen im Vordergrund. Materielles, Erfolg, Status. Und dann diese Überhöhung des Ästhetischen…

Viele von uns funktionieren sehr gut. Wir sind extrem produktiv. In anderen Ländern habe ich wesentlich mehr Interesse an der Persönlichkeit des jeweils anderen, mehr Aufgeschlossenheit und Empathie erfahren, als hier. Zum Beispiel innerhalb Skandinaviens. Oder in Italien. Die Schwerpunkte im sozialen Kontext werden anders gesetzt.

Wie soll sich ein junger Mensch da frei entwickeln? Wie soll er sich akzeptiert und getragen fühlen? Wie soll er frei denken und sprechen dürfen, wenn er damit riskiert, verbal gesteinigt oder wegen seines Äußeren ausgegrenzt zu werden. Ich persönlich halte viel von Schuluniformen und reinen Jungen-und Mädchenschulen. Nein, – das ist nicht etwa rückständig. Im Gegenteil. Das ist meine relativ frische Erkenntnis aufgrund belegbarer Fakten.

Meryl Streep, auskunftsfreudig

Ich fand es ziemlich amüsant, als Meryl Streep in einem Interview erzählte, dass sie erst auf einer reinen Mädchenschule angefangen hatte, sich selbst und ihr künstlerisches Potenzial zu entdecken und zu entwickeln. Endlich ohne die kritischen Blicke und Kommentare der Jungen. Neben ihren fortan angstfreien Vorträgen sei sie beispielsweise einmal drei Wochen mit ungewaschenen Haaren herumgelaufen und niemanden hätte es interessiert …
In meinen beiden Schulen dann

Seit vielen Jahren übe ich eine Tätigkeit aus, die mir ermöglicht, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit erscheine, treffe ich auf Arbeitskollegen, die ich noch nie vorher gesehen habe. Wir arbeiten dann drei oder vier Tage zusammen. Ich bin ihre Vorgesetzte. Am Ende dieser intensiven gemeinsamen Arbeitszeit weiß ich, mit wem ich es bei jedem einzelnen zu tun gehabt habe. Ich spreche mit ihnen immer auch über private Dinge, was sie z.B. in ihrer Freizeit machen und ob sie weitere berufliche  Pläne haben. Nur so fühlen sie sich in ihrer Individualität wahrgenommen. In jedem anderen Arbeitsumfeld hätte ich ja auch mehr Informationen über meine Mitarbeiter, als die reinen Ergebnisse ihrer Arbeitsleistung. Wenn wir uns verabschieden, habe ich eine bestimmte Idee von jedem Einzelnen, die mir in ihrer Arbeitszeit anvertraut wurde.

Jetzt stellt sich mir folgende Frage, ohne despektierlich oder überheblich gegenüber Lehrern sein zu wollen. Im Gegenteil. Niemals würde ich diesen verantwortungsvollen Einsatz für die Gesellschaft unterschätzen, aber…

Wie kann es sein, selbst wenn ein Klassenlehrer 30 Kinder in seiner Klasse unterrichtet und betreut, dass er keine Details über die Persönlichkeit des einzelnen Kindes kennt? Dass er nicht weiß, wofür sich jedes Kind im speziellen interessiert und was es einmal werden möchte. Dass er oder sie keine Ahnung davon hat, welche Musik der Schüler gern hört, ob er still und stark oder still und eingeschüchtert ist. Hat das Kind ein Haustier und wenn ja, welches? Ob es sich traut, seine Meinung zu sagen oder ob es sich anpasst. Warum weiß ein Lehrer oft über viele Jahre nicht, ob ein Kind familiäre Probleme verschweigt, weil es sich fürchterlich schämt. Oder ob das Kind innerhalb der Klasse gern mehr Verantwortung übernehmen würde. Er oder sie sieht die Kinder an jedem Tag! Ja sicher, es gibt natürlich herausragend positive Ausnahmen unter den Lehrern. Aber ich behaupte, ich machte es anders. Möglicherweise besser. Aus einem einfachen Grund: weil ich mich für jedes einzelne Kind, jeden einzelnen Menschen sehr interessierte und seine Persönlichkeit auf Augenhöhe betrachtete. Erstens, weil ich es als Kind gern selbst so erlebt habe und zweitens weil ich mir natürlich meiner Verantwortung bewusst wäre.

Auf Augenhöhe und
leider nicht selbstverständlich

Wenn es tatsächlich so ist, dass die meisten Lehrer aufgrund von Überlastung ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden können, muss dringend etwas geschehen. Eltern sollten selbstkritisch auch ihr persönliches Engagement hinterfragen und die Erziehung nicht weiter an die Schulen abgeben. Sie sollten ihre Kinder respektvoll behandeln und sehr sensibel auf ihre Empfindungen eingehen. Sie müssen die Persönlichkeit ihrer Kinder genau kennen und sie bewusst auf ihr Leben vorbereiten, – das setzt doch in jedem individuellen Fall ganz andere Maßnahmen voraus. Ich zitiere gern am Schluss noch einmal Prof. Hüther: „Kinder wollen sich beweisen und sich wichtig fühlen“.

Mütter und Väter sollten ihre Kinder ernst nehmen, vom ersten Tag an. Wenn wir unseren Kindern nicht die notwendige Bedeutung und Wertschätzung entgegenbringen, indem wir sie als ebenbürtig ansehen, dann werden sie mit einem Minderwertigkeitsgefühl aufwachsen. Sie brauchen dann sehr lange, wenn sie es überhaupt schaffen, bis sie sich als vollwertiges Individuum in unserer Gesellschaft begreifen und ihre Möglichkeiten auch selbstgewiss und erfolgreich  wahrnehmen.

2 Kommentare zu „Am liebsten würde ich eine Schule gründen

  1. Danke, Magda, – es wäre schön, wenn die jungen Menschen uneingeschüchtert ihr Potenziel entwickeln dürften und es insgesamt viel weniger um Äußerlichkeiten ginge. Ich selbst hätte eine Lernatmosphäre wie Du sie in Ungarn erlebt hast auch bevorzugt.

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  2. Teile deine Meinung vollkommen. Habe reine Mädchenschulen besucht und meine Selbstsicherheit für den Kampf der Geschlechter gut entwickelt. Wünsche Dir viel Erfolg, Magda

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